Zu Kapitel II.:
Der Vietnamkrieg, oder:
Wenn Giganten sich hilflos fühlen

Einleitung
Gibt es Antikriegsfilme?
Der Vietnamkrieg
Verdeckte Kritik in Filmen der 60er
Heimkehrerfilme
The Deer Hunter
Apokalypse Now
Vietnam-Trilogie Oliver Stone
Individuum und Militär
Gardens Of Stone
Besondere Morde im Krieg
Drei Filme von Barry Levinson
Ein "schmaler Grat"
A Bright Shining Lie
Going Back — Vietnamtourismus?
Krieg als US-Staatskunst
Tagebuch & UN-Charta
Verlag, Autor, Unterstützer

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Nachfolgend der Text des II. Buchkapitels. Die Quellennachweise befinden sich in den Anmerkungen der gedruckten Ausgabe.
Zur Lektüre empfohlene deutschsprachige Darstellungen:
Frey, Mark: Geschichte des Vietnamkriegs. 6. Auflage, München: C. H. Beck 2002.
Schneider, Wolfgang (Hg.): Apokalypse Vietnam. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2001.

"Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie vom Schöpfer mit sicheren, unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören."
Aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, 4. Juli 1776

"Alle Menschen auf der Erde sind von Geburt gleich. Alle Menschen haben ein Recht, zu leben, glücklich zu sein und frei."
Aus der vietnamesischen Unabhängigkeitserklärung, proklamiert von Ho Chi Minh am 2. September 1945


Mitte 1954 kam der ehemalige Werbefachmann und US-Luftwaffenoberst Edward Lansdale zusammen mit zwölf CIA-Leuten in Saigon an, um als bereits erprobter antikommunistischer Missionar auch in Vietnam dem demokratischen Kapitalismus zum Sieg zu verhelfen. Der Mann war mit einer enormen PR-Kreativität gesegnet, die sich in der farbpsychologischen Gestaltung von Wahlzetteln und der propagandistischen Nutzung katholischer Marienfrömmigkeit keineswegs erschöpfte. Im gleichen Jahr erschien Graham Greenes Roman "The Quiet American", der die CIA-Operationen in Vietnam als sehr hässlich darstellte. Mit der Gestalt des Alden Pyle "undurchdringbar geschützt von seinen guten Absichten und seiner Ignoranz" präsentierte das Werk einen US-Pragmatiker, dessen Pflichtgefühl keineswegs mit Immunität gegenüber "ungesetzlichen Verfahren" einherging. "Greene, der viele Jahre in Südostasien gelebt hat und die Region wie seine Westentasche kennt, wollte ... eine unmissverständliche Warnung vor einem Engagement in Vietnam erteilen. In seiner Darstellung paart sich der amerikanische Idealismus, dem eine überbordende Energie und scheinbar unversiegbare Geldquellen zugrunde liegen, mit Ignoranz und Dummheit. Sogar Unschuldige müssen ihr Leben durch die unverantwortliche Handlungsweise des amerikanischen Protagonisten lassen." (Hözl/Peipp 1991) 1957 kam Greenes Geschichte mit dem Film "THE QUIET AMERICAN" von Joseph L. Mankiewicz ins US-Kino. Die Intention allerdings hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Aus der Warnung vor dem Gewaltpotential der "moralischen" Freiheits-Apostel war jetzt ein gewöhnliches antikommunistisches Plädoyer für Nation building und Weltpolizistentum geworden. Bereits damals gab es wie heute im Vorfeld vergleichbarer Operationen entsprechende Lobbyorganisationen in den USA. Die Hauptfigur Pyle, im Film ein US-Geschäftsmann, gehört den "Freunden des freien Asiens" an. — In der Wirklichkeit sind dies die 1955 gegründeten "American Friends of Vietnam", denen auch die Kennedy-Familie verbunden war. — Zu den erfreulichen Seiten des gegenwärtigen Kulturgeschehens zählt eine erneute Verfilmung "THE QUIET AMERICAN" (USA/Australien 2002) durch Regisseur Phillip Noyce, die fast ein halbes Jahrhundert später die Geschichte der literarischen Vorlage mit weniger Entstellung vermittelt und die zweihundert zivilen Todesopfer der "stillen" US-Aktivitäten nicht unterschlägt. Seinem Buch hatte Graham Greene übrigens folgendes Byron-Zitat vorangestellt: "Wir leben im Zeitalter der Patente, machen Erfindungen, um Leiber zu töten und Seelen zu retten, und verbreiten sie alle in edelster Absicht."

Vietnam und das Musterland der "Unabhängigkeit"

Vietnam, das sich in seiner Geschichte einer tausendjährigen Einverleibungspolitik des großen China hatte widersetzen müssen, gehörte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum französischen Kolonialreich Indochina. Im zweiten Weltkrieg verschaffte sich das japanische Kaiser-Regime ab 1940 eine Oberhoheit über das Land. 1941 gelang es dem vietnamesischen Befreiungskämpfer und Revolutionär Nguyen Sinh Cung (1890-1969), bekannt als Ho Chi Minh, ein breites Volksbündnis (Viet Minh) gegen die kolonialistischen Mächte Japan und Frankreich zu initiieren. Nach der Kapitulation Japans proklamierte er am 2. September 1945 — beginnend mit einem Zitat aus der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung — die souveräne Demokratische Republik Vietnam. Die Kandidaten der Viet-Minh-Bewegung erhielten am 6. Januar 1946 bei den ersten freien Wahlen der vietnamesischen Geschichte 95 Prozent der abgegebenen Stimmen. Im Süden Vietnams hatte Frankreich bereits 1945 mit Waffengewalt seine alten kolonialen "Ansprüche" geltend gemacht und dann unter Bruch einer Vertragszusage für ein Volksreferendum im Juni 1946 die Abspaltung eines separaten "Cochinchina" mit Saigon als Hauptstadt betrieben. Ho Chi Minh zeigte sich noch im September außerordentlich verhandlungsbereit, um nicht das Leben unzähliger Vietnamesen leichtfertig zu opfern. Die Gegenseite antwortete mit Gewalt. Vom November 1946 bis zum 21. Juli 1954 führte Frankreich seinen langen Indochinakrieg gegen die Demokratische Republik Vietnam. 1949 installierte die Kolonialmacht im Süden eine Gegenregierung unter Bao Dai, der schon den Japanern als Marionettenkaiser gedient hatte. Die USA, historisches Vorbild für Unabhängigkeit, unterstützten das kolonialistische Frankreich politisch ab April 1945 beim Kampf gegen die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung, finanzierten ab März 1950 zunehmend den gesamten Krieg und leisteten schließlich auch militärischen Beistand aus der Luft. Die US-Militärhilfe für die europäische Kolonialmacht betrug fast drei Milliarden, die wirtschaftliche Entwicklungshilfe für Indochina lediglich 50 Millionen Dollar. Doch die Regierung Frankreichs, zuletzt nur noch von acht Prozent ihrer Bevölkerung hinsichtlich des Krieges gegen die Viet Minh und das vietnamesische Volk unterstützt, musste im Juli 1954 einem Waffenstillstand zustimmen. 92.000 Soldaten hatte der unzeitgemäße Kolonialkrieg auf französischer Seite das Leben gekostet. Fast zehnmal so viele Vietnamesen wurden getötet, so kurz, nachdem ihr Land zum Ende des zweiten Weltkrieges bereits über zwei Millionen Hungertote hatte beweinen müssen. Die von außen bewerkstelligte Trennung des Landes in das unabhängige Nordvietnam und das vom Ausland fremdbestimmte Südvietnam hätte nun enden können. Die vietnamesische Bevölkerung stand mehrheitlich hinter der von Ho Chi Minh verkörperten Befreiungsbewegung.

Ngo Dinh Diem — Ein installierter Diktator anstelle des Genfer Friedensplans

An dieser Stelle sind wir wieder angelangt im Erscheinungsjahr des Romans "The Quiet American" von Graham Greene, der ebenso wenig Gehör finden sollte wie die lange Reihe prominenter Mahner, darunter mehrere US-Generäle, der Unterstaatsekretär George Ball, der Sicherheitsberater McGeorge Bundy und — sehr nachdrücklich — der französische Staatschef Charles de Gaulle. Die USA entscheiden sich politisch 1954, dem Jahr der ersten Wasserstoffbombe, gegen den auf der Genfer Indochina-Konferenz beschlossenen Weg zu Unabhängigkeit und Frieden für das geschundene Vietnam. Sie verhindern die für 1956 festgelegten Wiedervereinigungswahlen. Mit ihrer Torpedierung der Ergebnisse von Genf verantworten die Regierenden der Vereinigten Staaten den "zweiten Teil" des längsten Krieges im 20. Jahrhundert. Den ihnen ergebenen Ngo Dinh Diem befördern sie von seinem US-Exil in New Jersey zurück nach Vietnam und bestimmen ihn zum südvietnamesischen Ministerpräsidenten. Die Pseudomystik dieses hochtrabenden Propheten wird nicht als Problem gesehen. Der Mann gilt als hundertprozentiger Antikommunist und hat theokratische Ambitionen. Diem und sein Clan, der sich als katholische Elite des buddhistischen Landes dünkt, organisieren mit US-Milliarden einen blutigen Polizeistaat. Unter dem Dach eines diffusen "Personalismus" huldigen sie einer autoritären Herrschaftstheorie, in der Volkssouveränität und Religionsfreiheit gleichermaßen keinen Platz haben. Den Höhepunkt ihrer rechtstaatlichen Ideale bilden berüchtigte Militärtribunale. Die Demokratisierung Vietnams durch die USA besteht also bereits in der ersten Phase darin, einen im Volk verhassten Diktator durch Militärhilfe und CIA-Operationen fast ein Jahrzehnt an der Macht zu halten.

Washington brandmarkt die äußerst blutige Kollektivierung der nordvietnamesischen Landwirtschaft, der auch zahlreiche dem Viet Minh verbundene Bodenbesitzer zum Opfer fallen. — Die Verfolgungen, in deren Verlauf bis zu 15.000 Menschen getötet wurden, enden 1956 auf Druck von oben; Ho Chi Minh und General Giap sehen sich zu einer Entschuldigung bei der Bevölkerung genötigt. — Im Süden des Landes deckt die Weltmacht jedoch politische Massenmorde des verbündeten Diem, der bereits nach drei Jahren Amtszeit bis zu 12.000 Gegner umgebracht hat. Bis 1960 gehen unabhängige Schätzungen von bis zu 150.000 politischen Häftlingen in Südvietnam aus. Die USA ignorieren auch die von ihrem Zögling geförderte Korruption und das Bereicherungssystem der Eliten, die das ganze Volk ins Elend stürzen. (Der angebliche Antifeudalismus des Regimes ist zu keinem Zeitpunkt mehr als eine hohle Phrase.) Die Saturday Evening Post kürt Ngo Dinh Diem bei seiner USA-Reise 1957 zum "Mandarin, der den Fahrplan der Roten umwirft". Im Mai 1961 feiert US-Vizepräsident Johnson den Tyrannen gar als den "Winston Churchill Südostasiens". Gegen den Widerstand breiter Kreise, der sich 1960 in Nachfolge des Viet Minh als Nationale Befreiungsfront (FNL) konstituiert, setzen US-Kampfflugzeuge Napalm, ein hochpotentes "geliertes" Benzingemisch, und erntevernichtende Chemikalien ein. John F. Kennedy gehört zu den Pionieren dieser Bombardierungen aus der Luft, denen zigtausende Zivilisten zum Opfer fallen. Sie kommen spätestens ab 1961 einem Krieg der US-Administration gegen das hungernde Volk von Südvietnam gleich. Kennedy zählt die Eliteeinheit Green Berets zu seinen Lieblingskindern. Die Zahl der so genannten US-Militärberater beträgt 1963 zum Zeitpunkt seiner Ermordung bereits mehr als 16.000.

Nguyen Van Thieu, oder: Das Domino-Kriegspiel eskaliert

Irgendwann würde die US-Regierung allerdings einsehen müssen, dass außer ihr, der profitierenden Machtelite und Teilen der feudalen Oberschicht niemand Sympathien für den südvietnamesischen Diktator hegte. Dass Diems einflussreiche Schwägerin "Madame Nhu" die Selbstverbrennung des oppositionellen Mönches Quang Duc vom 11. Juni 1963 öffentlich als nachahmenswertes "buddhistisches Grillfest" verhöhnt, erfüllt jedenfalls in keiner Hinsicht die Erwartungen der US-Öffentlichkeit. Allein im August 1963 lässt das Diem-Regime über 14.000 Oppositionelle verhaften. Noch im selben Jahr findet unter "stillschweigender Duldung" Washingtons ein Putsch statt, wobei eine im Volk verankerte Alternative nicht erwünscht ist. Ein Regierungschef wie General Duong Van Minh, dem eine Kompromissbereitschaft gegenüber der Nationalen Befreiungsfront nachgesagt wird und der sich den US-Vertretern als eigenständig agierender Politiker präsentiert, kann sich nicht halten. Ab Februar 1965 bis zum Ende des US-Krieges in Vietnam bleibt General Nguyen Van Thieu mit Hilfe der USA an der Macht. — Unter Diem hatte er eine militärische Fortbildung in den USA genossen. Karriere eröffneten ihm vor allem die Heirat einer katholischen Frau und die Konversion zur Religion der Machtelite. — An Demokratie und am Schutz der Menschen des Landes ist freilich auch diesem Junta-Chef nie gelegen gewesen. US-Steuergelder wandern auf sein Privatkonto. Zehn Jahre lang bestimmen maßlose Korruption, Ausschaltung bürgerlicher Oppositioneller, über 100.000 Verhaftungen, Verfolgungen der buddhistischen Mehrheit und millionenfache Landvertreibung armer Bauern seine Politik. Die Kriegsfolgen für die Menschen des Landes und eine Urbanisierung des Elends unter dem Regiment von Drogen, Schwarzmarkt und Militärprostitution lassen ihn kalt. Van Thieu´s Polizeistaat findet Rückhalt bei nur einem Achtel der Bevölkerung. Während ihres gesamten "Engagements" in Indochina unterstützen die USA damit durchgehend illegitime Regime, die bei keiner freien Wahl eine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten.

Kennedys Nachfolger Präsident Lyndon Johnson informiert den US-Kongress im August 1964 völlig irreführend über den — nie stattgefundenen — zweifachen Beschuss des US-Zerstörers "Maddox" im Golf von Tonking durch nordvietnamesische Streitkräfte. Nach dieser unzutreffenden — höchstwahrscheinlich schon im Vorfeld inszenierten — Initialzündung holt er sich bei den Volksvertretern eine Blankovollmacht für jede weitere US-Kriegsführung — ohne Kriegserklärung — in Vietnam. Der Kongress trifft die Entscheidung fast einstimmig. Was danach — jetzt auch unter Einsatz riesiger US-Bodentruppenkontingente — zu einem Krieg ohne Ende eskaliert, wurzelt vor allem in einem Theoriekonstrukt, das in Washington spätestens seit Dwight D. Eisenhower (Präsident 1953-1961) bis Mitte der 80er Jahre als Dogma die Köpfe beherrscht. Dieses Dogma besteht aus der einfachen Phrase, der Sieg des Kommunismus in einem einzelnen Land werde im zwangsläufigen Domino-Effekt eine ganze Erdregion dem demokratischen Kapitalismus entziehen. Von Vertrauen in die eigene Weltanschauung kann also keine Rede sein. Real wird daraus ein Domino-Kriegspiel der USA, ein Dominoeffekt von Gewalt und Elend in ganz Südostasien.

Thomas Jefferson und der sogenannte "Vietcong"

Zugunsten einer fixen Propaganda-Idee hatten die USA ab 1954 die friedliche Wiedervereinigung Vietnams verhindert. Danach war Vietnam eine Prestige-Frage für die Weltmacht. Dass die vordringliche Regierungstugend des Zuhörens in der maßgeblichen US-Außenpolitik nie zum Tragen kam, ist ein weiterer tragischer Aspekt des ganzen Komplexes. Der Sozialrevolutionär und Antikolonialist Ho Chi Minh wurde aufgrund des paranoiden Antikommunismus der US-Politik unweigerlich zu immer engeren Verbindungen mit China und der Sowjetunion gezwungen. Frühe Modelle eines gemeinschaftlichen Wirtschaftens — anstelle des Agrar-Feudalismus — konnten zunächst an uralte Traditionen der vietnamesischen Dörfer anknüpfen. Die gemeinschaftsbezogenen Potentiale der vietnamesischen Gesellschaft und die Integrationskraft ihres bekanntesten Befreiungskämpfers sind in der Literatur unbestritten. Ohne die "Interventionen" der US-Administrationen hätte der Weg eines vietnamesischen Sozialismus sich unter Umständen ganz anders entwickelt. Real aber waren alle Anstrengungen in einem Widerstand erschöpft, der das Regiment von Riesenbombern und Giftwolken auch seinerseits oft mit blutigstem Gegenterror beantwortete und auf Waffenlieferungen der kommunistischen Großmächte angewiesen war. Lange Zeit hatte sich Ho Chi Minh glaubwürdig für einen breiten gesellschaftlichen Dialog eingesetzt. Sein Appell an Woodrow Wilson (Präsident 1913-1921), das ursprüngliche US-Ideal der Selbstbestimmung aller Völker in Versailles politisch zu vertreten, stieß auf taube Ohren. Seine erneute — wörtliche — Anknüpfung an die Ideale eines Thomas Jefferson — nach US-Hilfen für den Viet Minh im Widerstand gegen Japan — blieb ebenso ohne jede Reaktion wie sechs persönliche Briefe an Harry S. Truman (Präsident 1945-1953). Bezeichnender Weise hatte Ho Chi Minh jedoch in der vietnamesischen Unabhängigkeitsproklamation von 1945 das bloße Glücksstreben, das jedem Menschen ohnehin gegeben ist, durch ein Recht auf Wohlergehen ergänzt. Das war ein wegweisender Vorgriff auf die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte von 1948, die abstrakte Freiheitsrechte durch soziale Grundrechte konkretisiert. Für die Vietnampolitik der Vereinigten Staaten, die Ho Chi Minh zutiefst als "antiamerikanisch" empfand, würden sich hingegen die auf Besitzstandswahrung bedachten Vertreter unter den US-Verfassungsvätern als das ausschlaggebende Erbe erweisen. Diese hatten, so Noam Chomsky, vor allem den Schutz der "Minderheit der Wohlhabenden vor der Mehrheit" proklamiert und wünschten sicherzustellen, dass das "Land von denen regiert wird, die es besitzen." Besser lässt sich auch das praktische Vietnam-Programm der beteiligten US-Administrationen nicht auf den Punkt bringen. Aus diesem Grund blieben alle Versuche, den wirkungsvollen Sozialmodellen der im Volk verankerten Nationalen Befreiungsfront episodenhaft nachzueifern, bestenfalls kosmetische Plagiate.

Zwischen 1947 und 1954 hatte eine erneut entfachte antikommunistische Hysterie in den USA dazu geführt, dass die Grundrechte vieler US-Bürger zunehmend außer Kraft gesetzt wurden. Bezogen auf Südostasien bewirken dann entsprechende Stereotypen, dass man schließlich die Mehrheit eines ganzen Volkes zum Feind erklärt. Die offizielle US-Politik folgt ihrem Ziehkind Ngo Dinh Diem darin, die Nationale Befreiungsfront pauschal als "Vietcong" (Vietnamesische Kommunisten) zu betrachten. Allein dieses Etikett freilich genügt, um des Todes zu sein. Ohne Zweifel sind die Kommunisten und ihr strategisches Volksfront-Konzept maßgeblich für die Entwicklung von Viet Minh (1941) und FNL (1959/60). Doch ebenso steht es außer Zweifel, dass der organisierte Widerstand beim Einsetzen des brutalen Nation building durch die USA eine echte, an der Basis ausgesprochen autonome Volksbewegung ist. Die "Front National de Libération" (FNL) entsteht aus zwanzig südvietnamesischen Gruppierungen. Sie schließt vor allem große Teile der verfolgten buddhistischen Mehrheit ein und umfasst unter anderem auch bürgerliche Katholiken, die nicht mit der vom Ausland installierten Machtelite sympathisieren. Sie ist partizipatorisch, volksnah organisiert und zunächst nur kümmerlich bewaffnet. Die Losung der angestrebten Landreform entspricht einem vietnamesischen Sprichwort: "Demjenigen soll das Land gehören, der zu jeder Jahreszeit die Erde zwischen seinen Händen reibt." An erster Stelle geht es der Bewegung nach einem Leitwort von "Onkel Ho" (Ho Chi Minh) darum, Menschen zu gewinnen. Richtschnur sind dabei die Alltagszusammenhänge der Bauern in ihren Dörfern.

"A noble case"

Am Ende werden modernste Waffentechnologie und Bankkonten einer Supermacht gegen diese Art von Reichtum das Nachsehen haben. Nirgendwo sonst in der Geschichte hat eine derart überlegene Streitmacht wie die in Vietnam kämpfende US-Armee einen Krieg verloren. Aus dem historischen Geschehen lässt sich erkennen, dass es auf Seiten des gesamtvietnamesischen Widerstands nicht nur Militärhilfe aus der Sowjetunion und China sowie den Ho-Chi-Minh-Pfad für Nachschub aus Nordvietnam gab, sondern auch intelligente politische Strategen. In der politischen und militärischen Szene US-Amerikas ist gleichzeitig über alle Jahre hinweg an entschlossenen Wild-West-Reden kein Mangel. Der außenpolitisch unerfahrene US-Präsident Johnson strahlt vor allem innenpolitisch mit einer Gesellschaftsvision, die nicht viel konkreter wird als zuvor die sozialromantische Rhetorik von Diktator Diem in Saigon. Zunächst möchte er, dass die südvietnamesischen Generäle unter US-Anleitung "im Dschungel den Kommunisten das Fürchten lehren." Doch dann erklärt er der Bevölkerung, warum er gegen sein Wahlkampfversprechen von 1964 die "Blüte der amerikanischen Jugend" in einen "Kampf gegen Hass und Zerstörung" nach Vietnam schicken muss: "Es gibt niemand anderen außer uns", der diesen Job übernimmt! Johnson scheut vor der Entsendung von US-Bodentruppen nach Vietnam nicht davor zurück, seine "Anti-Appeasement-Politik" mit der Befreiung Europas vom Faschismus zu vergleichen. Allenthalben wird gebetsmühlenartig proklamiert, die Freiheit West-Berlins und der ganzen freien Welt werde in Südostasien verteidigt. Der US-Kardinal Spellmann glaubt 1966 gar — im faktischen Widerspruch zum Konzil der katholischen Weltkirche — Vietnam sei ganz prinzipiell ein "Krieg für die Zivilisation"! Der Schauspieler Ronald Reagan, der am 27. Mai 1981 als Präsident den Vietnamkrieg eine "ehrenhafte Mission" ("a noble case") nennen wird, verkündet 1965 sein Rezept: "Wir sollten Nordvietnam den Krieg erklären. Dann könnten wir bis Mittag das ganze Land einebnen und wären zum Abendessen wieder zu Hause." Luftwaffengeneral Curtis LeMay will "Vietnam in die Steinzeit zurückbomben". General William Depuy wünscht begleitend zur endlosen Truppenanforderung "mehr Bomben, mehr Granaten, mehr Napalm, bis der Gegner zusammenbricht". 1967 ordert man den politisch unbedarften, jedoch unverdrossen siegesgewissen General Westmoreland vor den US-Kongress, um die Volksvertreter mit seinem Tunnellichtblick zu ermutigen: "Mit Unterstützung, Geduld und Entschlossenheit und weiterem Nachschub werden wir den kommunistischen Aggressor in Vietnam besiegen!" Seine im selben Jahr erläuterte Strategie: Er will darauf hin arbeiten, dass das Land in einem Maß ausblutet, "welches an eine nationale Katastrophe für Generationen grenzt". Argumentativ kann ein US-Offizier die Einebnung von Ben Tre nach der blutigen Tet-Offensive der südvietnamesischen FNL und der nordvietnamesischen Armee vom 31. Januar 1968 damit begründen, man habe den Ort durch seine Zerstörung gerettet!

"Bei Nacht sind alle Vietnamesen Feinde"

Das nebulöse Feindbild der US-Administrationen und leitenden Militärs überträgt sich auf die US-Soldaten, die niemand auf eine Kommunikation mit den Vietnamesen, ihrer Kultur und ihrer Religion (Buddhismus, konfuzianisch geprägter Ahnenkult) vorbereitet. Sie können, wie US-Botschafter Taylor bereits 1965 befürchtet hatte, zwischen unbeteiligten Bauern und FNL-Kämpfern einfach nicht unterscheiden. Sie fühlen sich vor Ort überall in feindlichem Gebiet. Zumal bei Nacht, so ein überliefertes Zitat, sind alle Vietnamesen Feinde. "Die Nacht gehört Charlie!" Die rassistische Bezeichnung "Gook" für Asiaten ist in der US-Army gängig: "Wir nannten sie ja Schlitzaugen. Dadurch haben wir sie entmenschlicht. Man kann ja keine Menschen erschießen." — Ohne das Phänomen "Rassismus" sind der Vietnamkrieg und seine massenkulturelle Bearbeitung nicht gültig zu beschreiben. — Verheerend wirkt sich die propagandistische Vorbereitung der US-Soldaten aus. Zuhause hatte man ihnen ja erzählt, sie würden das Land gegen einen äußeren kommunistischen Aggressor verteidigen. Enttäuscht müssen sie jedoch feststellen, dass man sie vor Ort keineswegs sehr häufig als Befreier willkommen heißt. Wie undankbar die asiatischen Menschen sind, denken viele. Sie wollen die Freiheit gar nicht, und ziehen das — auch in der US-Unabhängigkeitserklärung an erster Stelle genannte — "Leben" vor. Möglicher Weise sind sie noch nicht zivilisiert genug für das hohe Ideal? Faktisch gehört ja die Mehrheit der Bevölkerung zu den potentiellen Sympathisanten des so genannten Feindes. Wie soll man das alles verstehen? Ist die Opposition gegen die letztlich von Washington installierte Regierung in Saigon vielleicht doch ein Bürgerkrieg oder ein Unabhängigkeitskrieg oder irgend etwas dazwischen? Robert J. Lifton fasst die Perspektive der einfachen Soldaten so zusammen: "In Vietnam fühlten sich die meisten GIs an einen fremdartigen, weit entrückten und ganz unheimlichen Ort versetzt. Nicht minder unbegreiflich erschienen ihnen die Vietnamesen und ihre Kultur. Die Gegend war nicht nur gefährlich und unergründlich, sondern auch bar aller Landmarken, die Gefahren anzeigten oder halfen, den Feind zu orten. Der GI schwankte ständig zwischen tiefer innerer Verwirrung, Hilflosigkeit und panischer Angst."

Die neuen Namen des Todes: Rolling Thunder, Bodycount, Free-Fire-Zones und Phoenix

Zunächst eskaliert der "chirurgische" Luftkrieg der USA ab 1965 zu einem "Rollenden Donner" (Rolling Thunder) der B52-Bomber. Diese können mit einer einzigen Ladung ein ganzes vietnamesisches Gebiet von etwa ein mal vier Kilometer in eine Kraterlandschaft ohne Leben verwandeln. Die breite Palette der "Entlaubungschemikalien" dient vordergründig einem Krieg gegen die Natur, die den Befreiungskämpfern Unterschlupf und Tarnung gewährt. Hinzu kommen unter den Augen einer empörten Weltöffentlichkeit das erprobte Napalm und die breitflächig zerplatzenden Splitterbomben, großflächige Massenmordmethoden also, die für die gleichzeitige und unterschiedslose Eliminierung vieler Menschen ersonnen worden sind. Dennoch kostet eine einzelne "Feindestötung" den US-Steuerzahler im Jahr 1967 angeblich rund 400.000 Dollar. Im Mai 1967 erkennt der aufrichtig lernbereite US-Verteidigungsminister McNamara: "Das Bild der größten Supermacht der Welt, die wöchentlich 1000 Zivilisten tötet oder schwer verwundet, um ein kleines, zurückgebliebenes Land zum Einlenken zu zwingen für ein höchst umstrittenes Ziel, ist kein schönes." Mehr als die Hälfte der US-Bürger wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, warum die Armee ihres Landes in Vietnam kämpft. In London umringen erzürnte Menschen die US-Botschaft. In Paris fallen Eier, Farben und Steine auf den US-Vizepräsidenten. Doch für Präsident Nixon ist es später kein Problem, der Hässlichkeit des gigantischen Bombenkrieges schier jede Grenze zu öffnen. (Die vietnamesische Bevölkerung nennt die US-Bomber "Johnsons" oder "Nixons".) Den freien Himmel Indochinas verwandeln seit 1961 insgesamt 7,5 Millionen Tonnen Bomben der USA in eine Hölle. — Das ist die vierfache Menge der im ganzen Zweiten Weltkrieg auf Europa abgeworfenen Bomben! — Vietnamesische Zivilisten und Kämpfer verlegen ihr Leben, ihre Einrichtungen und sogar die Geburt ihrer Kinder deshalb unter die Erde. Mit einfachsten Mitteln bauen sie in einigen Regionen die bereits auf den ersten Indochinakrieg zurückgehenden Tunnelsysteme zu einem Netz aus, das in der Menschheitsgeschichte wohl einmalig dasteht.

Klare Gebietsabgrenzungen dort Feindesland, hier Freundesland gibt es für die US-Truppen in Südvietnam aufgrund der bereits oben beschriebenen Ungereimtheiten nicht. Deshalb sind auch herkömmliche Begriffe für militärische "Erfolge" weithin unbrauchbar. Alternativ kommt es zu einem neuen Sprachkodex des Mordens und zu einer verbalen Militärpädagogik des Killens, die der Verrohung einer ganzen Armee Vorschub leisten. Der Feind "Charlie" — später auch respektvoll "Sir Charles" — lauert überall. Die Losung des Dschungelkampfes lautet "Search and Destroy!", suchen und dann killen. "Bodycount" und "Killratio" sind in den stolzen Militärberichten die maßgeblichen Parameter. Gemeint sind Leichenzählungen und das statistische Verhältnis der eigenen Opfer zu den getöteten Vietnamesen. Dass die Gesamtzahl der Ausgelöschten mitunter eine Verdoppelung der realen Zahlen der kämpfenden Gegner ergibt, führt man später auf Berechnungsfehler und nicht auf Zivilistenanteile zurück. In "Clearings" wird das Land durchforstet, unter die Lupe genommen und gesäubert. Territoriales Feindgebiet schafft man sich auch in Südvietnam. Ganze Regionen mit einem hohen Anteil an Kämpfern und Sympathisanten der Befreiungsfront erhalten eine Evakuierungsvorwarnung, die das Völkerrecht Vertreibung nennen würde. Anschließend erklärt man sie zu "freekill areas" oder "free fire zones". In diesen Freiheitszonen des Todes darf auf alles geballert werden, was sich bewegt. Dort kann jeder heimkehrende Bomber seine restliche Ladung abwerfen. Anfang 1967 wird zum Beispiel in der US-Operation CEDAR FALLS das so genannte "Eiserne Dreieck" nahe Saigon mit Hilfe von B52-Bombern, 30.000 Soldaten, Planierraupen und chemischer Abschlussdesinfektion in eine von allem Leben befreite Landschaft verwandelt. Nach der Übernahme des Oberkommandos durch General Creighton Abrams durchkämmen 1968 mobile Einsatzkommandos Dörfer und Reisfelder zur "Identifizierung und Ausmerzung" von schwer auszumachenden Kaderleuten der FNL und ihres Umfelds. Das brutale Programm heißt PHOENIX, ist von der CIA entwickelt worden und führt zur Exekution von Zehntausenden, die man als was auch immer zu identifizieren glaubt. Die US-Army will dem "Vietcong" überall auf die Schliche kommen, indem sie auch seine Mobilität imitiert. Parallel zum High-Tech-Krieg üben sich "elitäre" GIs unter anderem als "Tunnelratten" in archaischen Kampfmethoden.

Nach all dieser offiziellen Kriegsführung gegen Millionen Menschen empört sich die Weltzivilisation aber doch vor allem darüber, dass einfache US-Soldaten den Leichen ihrer Opfer die Zähne herausreißen oder die Ohren abschneiden und davon noch Fotos für Zuhause schießen. — Dergleichen war bereits aus dem Koreakrieg (1950-53) bekannt. — 1969 kommt — hauptsächlich aufgrund der Initiativen eines ehemaligen US-Soldaten — ein einzelnes Rachemassaker, das eine US-Einheit eineinhalb Monate nach der Tet-Offensive 1968 im Dorf My Lai verübt hatte, an die Öffentlichkeit. Die Kritik am "Babykilling" der eigenen Leute gibt dem Protest in den USA starken Rückenwind. Bis heute lenkt die mediale Fixierung auf das Massaker von My Lai, dessen Opferzahl die Literatur zuweilen großzügig viertelt und dem mehrere duzend ähnlicher Massaker zur Seite stehen, vom Gesamtausmaß der US-Kriegsverbrechen und der Gewaltexzesse im Militär ab. Die 20.000 Filmrollen, auf denen Kameramänner der US-Army die "Arbeit" der eigenen Leute in Vietnam festgehalten haben, zeigen jedenfalls keine Kriegsführung, die sich im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs auf "westliche Zivilisationsstandards" berufen könnte.

Drei Millionen US-Kriegsdienstleistende

Insgesamt leisteten rund drei Millionen US-Amerikaner ab 1961 in Vietnam Kriegsdienst, nach 1965 zumeist in Einsätzen von einem Jahr. Der Altersdurchschnitt betrug etwa 19 Jahre. Auf dem Höchststand im März 1969 zählte die US-Army 543.000 Mann vor Ort. Von den Verpflichteten gehörten 80 Prozent der Unterschicht an. Sie kamen vorwiegend aus Großstadtgettos und armen Landgegenden. Über den längsten Zeitraum des Krieges waren Afro-Amerikaner aufgrund ihrer Einsatzorte und Rangeinstufungen unter den Todesopfern deutlich überrepräsentiert. Viele US-Soldaten waren entsetzt, dass sie gegen Frauen und Jugendliche kämpfen mussten. Der US-Veteran Smith erinnert das zwiespältige Erleben des Krieges so: "Gefangene machte der Vietcong kaum. Die meisten von uns, die in seine Hände gerieten, wurden sofort umgebracht. Ich war Marinesoldat, also mit einem Boot unterwegs. Marinesoldaten wurde auf der Stelle abgeschlachtet und angezündet, wenn der Vietcong sie in die Finger bekam. Sie haben uns einfach angezündet, weil sie keine Gefangenen machen konnten. Sie konnten uns nicht mitnehmen, sie mussten ja beweglich bleiben. ... Wir waren mit zwei Patrouillenbooten unterwegs und entdeckten eine Gruppe von 15 oder 20 Vietcong, die den Fluss durchquerten. ... Zwei waren vielleicht nur zwei oder drei Fuß entfernt, als ich sie erschoss. Du erschießt Leute im Wasser, und sie schauen dich an und haben keine Waffe. Du kannst ihnen in die Augen sehen, und du schießt ihnen einfach in den Kopf. Das hat mir sehr weh getan, doch je länger es dauerte, umso leichter wurde es." Insgesamt desertierten mehr als 30.000 Männer. Allein für 1970 wird die Zahl der regelmäßigen oder vollständig süchtigen Heroin-Konsumenten in der US-Army auf rund 40.000 geschätzt. Das Problem des entfesselten Killens ist offenkundig, wenn das Pentagon im gleichen Jahr mehr als 200 Anschläge von US-Soldaten auf unbeliebte Vorgesetzte notiert. Die unsäglichen Leiden der heimkehrenden Veteranen werden uns in einem späteren Kapitel beschäftigen.

Arroganz und Lügen der US-Machtelite

Die Haltung von Demokraten und Republikaner unterschied sich während des Indochina-Krieges in den 60er Jahren nur unwesentlich. Politiker wie der einsichtige Senator Fulbright, der 1966 sein Land bat, von der "Arroganz der Macht" abzulassen, standen auf einsamem Posten. Eine wirkliche Alternative gab es für die Wähler der Vereinigten Staaten nicht. Für die Administration war es längst selbstverständlich geworden, die Außenpolitik am demokratischen Prozess der Gesellschaft vollständig vorbei zu lenken. Zur Ermöglichung ihrer Vietnamkriegsführung haben die US-Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon sowohl den Kongress als auch die Bevölkerung in den zentralsten Punkten getäuscht und belogen. Kennedy machte den wirklichen Charakter des Südostasien-"Engagements" nie öffentlich. Johnson präsentierte mit dem Tonking-Zwischenfall einen nicht existenten Grund für seinen irreversiblen Eintritt in einen Bodenkrieg; vietnamesische Ziele der US-Bomber wählte dieser Friedensrhetoriker höchstpersönlich aus. Die Tet-Offensive von FNL und nordvietnamesischen Soldaten am 31. Januar 1968 schreckte trotz ihrer Misserfolge die US-Öffentlichkeit auf, weil man diese bis dahin stets mit beruhigenden Desinformationen über die Stärke des Feindes versorgt hatte. Nixon, seit 1969 im Amt, gewann 1972 die Präsidentschaftswahl gegen den demokratischen Kriegsgegner George McGovern mit den Erträgen seiner "Watergate"-Aktivitäten und einer Neuauflage seiner "De-Amerikanisierung". Der Krieg sollte "vietnamisiert" und die US-Truppen zügig abgezogen werden. Das fanden die meisten vernünftig. Tatsächlich hat Nixon als Kriegspräsident die rücksichtsloseste Eskalation betrieben und unberechenbare "Verrücktheit" gezielt als Strategie eingesetzt. Die Ausweitung des US-Krieges auf Kambodscha, hunderttausende Tonnen Bomben, eine Seeblockade, die Verminung des Hafen von Haiphong und weit mehr als zwei Drittel (!) aller toten US-Soldaten fallen in seine Amtszeiten! Vor seiner Kambodscha-Invasion — gegen die stereotyp beschworene Bedrohung der freien Welt — erklärte er, "die mächtigste Nation der Welt" könne doch nicht länger "wie ein bedauernswerter hilfloser Gigant" handeln. General Alexander Haig, auf seine Beteiligung am Weg nach Kambodscha und Laos "sehr stolz", würde danach niemals verstehen, warum gewählte US-amerikanische Rechtsgelehrte "dies als kriminellen Akt einstufen konnten." Nixons Weihnachtsbombardement 1972 mit 3500 Flugeinsätzen über Nordvietnam provozierte eine scharfe öffentliche Abscheubekundung durch Papst Paul VI.

"Die schlafende Bestie des öffentlichen Protestes"

Auf Seiten der Bevölkerung der USA entwickelte sich ab 1964 langsam eine Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, die schließlich in fast allen Ländern Verbündete fand und bis zur größten simultan-internationalen Friedensdemonstration der ganzen Menschheitsgeschichte am 15. Februar 2003 als unvergleichlich bezeichnet werden muss. Am Vietnamkrieg schieden sich die Geister; es wurden bestehende Widersprüche in der US-Gesellschaft sichtbar. Vor allem studentische bzw. akademische Initiativen, Frauenbewegung, schwarze und weiße Bürgerrechtler, Angehörige der Soldaten, die Linke und Christen entfesselten "die schlafende Bestie des öffentlichen Protestes" (Henry Kissinger). Der Nixon-besessenen christlichen Rechten standen Menschen wie die pazifistischen Katholiken Philip und Daniel Berrigan gegenüber. Auch nach seiner Ermordung am 4. April 1968 blieb der auf der ganzen Welt hoch geachtete Friedensnobelpreisträger Pastor Martin Luther King eine Leitfigur der Bewegung, in der Rassismus im eigenen Land, soziales Elend und Krieg in der Ferne gleichermaßen abgelehnt wurden. (Im Rahmen des afroamerikanischen Kampfes um Bürgerrechte in den USA zählte die Statistik seit Mitte der 1960er Jahre 300 Tote, 8.000 Verletzte und 60.000 Verhaftungen im Zeitraum von nur drei Jahren!) 1967 hatte M. L. King sich gegen den Rat vieler Freunde eindeutig positioniert: "Ich wusste, dass ich nie mehr meine Stimme gegen die Gewalttätigkeit der Unterdrückten in den Schwarzenvierteln erheben konnte, wenn ich nicht zuerst klipp und klar mit dem größten Gewaltlieferanten der gegenwärtigen Welt redete: mit meiner eigenen Regierung. ... Der Krieg in Vietnam ist lediglich ein Symptom einer weit tiefergehenden Krankheit, die im Geist Amerikas steckt. ... Eine wahre Revolution der Werte wird Hand an die Weltordnung legen und vom Kriege sagen: >Diese Art, Meinungsverschiedenheiten zu bereinigen, ist nicht Recht.< Dieses Gewerbe, Menschen mit Napalm zu verbrennen, die Wohnhäuser unseres Landes mit Witwen und Waisen zu füllen, giftige Drogen des Hasses in die Adern sonst humaner Völker einzuspritzen, Männer körperlich behindert und seelisch zerrüttet von finsteren, blutigen Schlachtfeldern heimzuschicken, das kann nicht mit Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe in Einklang gebracht werden. Eine Nation, die Jahr um Jahr fortfährt, mehr Geld für militärische Verteidigung als für soziale Aufbauprogramme auszugeben, nähert sich dem geistigen Untergang."

Die Bewegung klagte die eigene Regierung wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" an. Viele Vietnamveteranen schlossen sich an und forderten: "Bringt unsere Brüder nach Hause!" Sie führten in blutigen Schauspielen am Capitol vor, zu welchen Taten man sie in Südostasien angestiftet hatte, und warfen die Belohnungen des Militärs — Rangabzeichen und Kriegsorden — in den Schmutz. Musik- und Jugendszene, so das unglaubliche Woodstock-Festival 1969, verbreiteten die Botschaft gegen den Krieg. Waren 1965 bei der ersten großen Antikriegsdemonstration erst 25.000 Menschen beteiligt, so kamen im April 1967 in New York bereits 400.000 auf die Straße. Im Oktober 1967 forderte Martin Luther King beim Marsch auf Washington vor 100.000 Demonstranten ein Ende des Krieges. Im Oktober 1969 folgten rund zwei Millionen US-Amerikaner den Antikriegsaufrufen in 200 Städten, und wiederum Millionen sangen im November nach Glockengeläut in den Kirchen des Landes John Lennons Hymne "Give Peace a Chance". Stellvertretend für das nationalistische Wahngebilde der US-amerikanischen Rechten richtete Präsident Nixon am 3. November 1969 ein Wort an die Widersacher im eigenen Land, das richtungsweisend für die spätere republikanische Aufarbeitung der Vietnam-Apokalypse bleiben sollte: "Nordvietnam kann die Vereinigten Staaten nicht demütigen. Nur Amerikaner können das!" Den Feind sah er innerhalb der eigenen Grenzen. Im Mai 1970 erreichten 100.000 Leute um das abgeriegelte Weiße Haus, dass der Kongress Nixon keine Gelder für eine Invasion in Laos bewilligte. Am 4. Mai hatten Nationalgardisten auf dem Campus der Kent State Universität in Ohio auf einer Demonstration gegen die Ausweitung des Krieges auf Kambodscha vier Studenten getötet. Im ganzen Land solidarisierten sich die Universitäten und gesellschaftliche Gruppen. Die Regierung war bloß gestellt, weil sie nicht nur geheimdienstliche Operationen, sondern auch Knüppel und tödliche Schusswaffen gegen Bürgerinnen und Bürger einsetzte, die ihre Verfassungsrechte wahrzunehmen gedachten. Bereits Präsident Johnson hatte die Antikriegsbewegung als bloßen "Handlanger des Internationalen Kommunismus" diffamieren wollen. Durch das FBI ließ er Tausende von US-Bürgern bespitzeln. Mittels einer eigenen FBI-Operation CHAOS sollte die Bewegung in sektiererische Konflikte verwickelt werden. Selbst vor der illegalen Einbeziehung des CIA schreckte Johnson nicht zurück. Unter Nixon, dessen Amoralität vor allem durch evangelikale Großveranstaltungen gedeckt wurde, weigerte sich die Bundespolizei später, viele tausend Menschen verfassungswidrig zu kontrollieren.

Die Erfolge der Bewegung dürfen nie vergessen werden. Ende 1970 hielten fast 60 Prozent der US-Amerikaner den Krieg für unmoralisch und zwei Drittel zumindest für einen furchtbaren Fehler. Zu diesem Zeitpunkt führte die Regierung im Musterland der Demokratie bereits länger gegen den Willen der eigenen Bevölkerungsmehrheit Krieg. Ende der 60er Jahre schwenkten die im Sinne der Administration arbeitenden US-Medien für eine kurze Zeit um und präsentierten dabei Höhepunkte des aufdeckenden Journalismus. Die Demokratische Partei konnte auf Dauer nicht länger ihren kriegswilligen Führern folgen. Sogar Robert Kennedy gehörte schließlich zu den ernsthaften Zweiflern und wurde vermutlich auch deshalb am 6. Juni 1968 — zwei Monate nach Martin Luther King — ermordet. Einzelne US-Bürger bewiesen ein starkes Rückgrat: Daniel Ellsberg kopierte 1971 zusammen mit Anthony Russo die streng geheimen "Pentagon Papers" über die wahren Hintergründe des Vietnamkrieges und veröffentlichte sie in einem weiteren Akt des zivilen Ungehorsams. Die Wehrpflicht wurde 1972 nach zeitweiliger Umwandlung in eine Lotterie ganz abgeschafft, und im März 1973 verließen bei anhaltender Kriegsführung die letzten US-Soldaten den vietnamesischen Boden. Eine ganze Generation bereicherte die US-Gesellschaft mit ihren Einsichten und ihrer Widerstandskultur. Die Menschen der Erde hatten das Selbstverständliche auch verstanden, dass nämlich die den Vietnamkrieg führende Administration und die Bevölkerung der USA streng zu unterscheiden sind.

Unter der Administration von George W. Bush jun. ist an dieser Stelle traurig nachzutragen, dass das FBI heute erneut — auf der Grundlage eines "Geheimdossiers" — gegen die Friedensbewegung und Regierungsgegner in den USA agiert.

Resümee des Schreckens und US-Unschuldswahn

Nach insgesamt dreißig Jahren Krieg erhielt ganz Vietnam 1976 Einheit und Unabhängigkeit, wie sie bereits 1954 so greifbar nahe gewesen waren. Im Rückblick erweist es sich, dass US-Administrationen fähig waren, das Leben von 58.167 zumeist sehr jungen US-Amerikanern für ein absurdes und verbrecherisches Unternehmen zu opfern, an dessen Finanzierung die Bundesrepublik übrigens erheblichen Anteil hatte. Zwischen "1961 und 1975 fielen etwa zwei Millionen Vietnamesen dem Krieg zum Opfer, hinzu kamen 300.000 Vermisste. Mehrere hunderttausend Kambodschaner und Laoten verloren ebenfalls ihr Leben. Im Norden waren die sechs städtischen Industriezentren sowie 4000 der 5800 landwirtschaftlichen Genossenschaften durch Luftangriffe schwer beschädigt. Im Süden hatten die Kriegsführenden 9000 der rund 15.000 Dörfer zerstört, Millionen Hektar Land durch Minen, Bomben und Herbizide unbrauchbar gemacht. Riesige Waldgebiete waren durch Entlaubungsmittel und Pflanzengifte vernichtet. In Südvietnam hinterließ der Krieg 900.000 Waisen, eine Million Witwen und 200.000 Prostituierte." (Marc Frey) Mit diesen Zahlen ist nur ein Ausschnitt der Verwüstung des Landes, der ökologischen Langzeitschäden und der — bis heute anhaltenden — menschlichen Leiden benannt. Zum grausamen Erbe der Nachgeborenen Vietnams und der US-Veteranen gehört das chemische US-Kampfmittel Agent Orange, an dessen Produktion der deutsche Bayer-Konzern mittelbar beteiligt war und dessen Masseneinsatz offenbar erst gegenwärtig in vollem Umfang ans Licht kommt. Rückblickend konstatiert US-Generalstabsoffizier Andrew Goodpastor: "Ich glaube, dass die Kollateralverluste sehr groß waren. Aber das ist Krieg! Man versucht immer, die Verluste auf Seiten der Zivilbevölkerung niedrig zu halten. Aber wenn es unbedingt notwendig ist, müssen Entscheidungen durch die Führung getroffen werden."

Das Resümee zur US-amerikanischen Vietnampolitik: Die Administrationen der USA haben 1949 bis 1954 gegen eine Unabhängigkeitsbewegung, die sich unter anderem auf die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten und auf die Bill of Rights berief, einen kolonialistischen Krieg unterstützt. Danach sabotierten sie die einzige aussichtsreiche Friedensperspektive, entfesselten unter der hartnäckigen Behauptung "äußerer Aggression" die Gewaltspirale in einem Bürgerkrieg, installierten menschenverachtende Regime, rüsteten die vom Volk nicht gedeckte Machtelite mit Massenmordwaffen von unvorstellbarem Ausmaß aus, verwandelten die Reiskammer Vietnams in ein Hungerhaus, führten indirekt und direkt mindestens fünfzehn Jahre lang Krieg gegen Menschen in Süd- und Nordvietnam und in Nachbarländern, bahnten den Weg zu unsäglichem Leid in Kambodscha und Laos und entzogen sich schließlich der durch Nixon zugesagten Nachkriegshilfe für Vietnam, die mit vier Milliarden Dollar nicht einmal mal drei Prozent der US-Kriegskosten betragen hätte. Selbst ein ernsthaft bemühter Christ wie Jimmy Carter konnte nach all dem als Präsident 1977 allen Ernstes verlauten lassen, die USA trügen angesichts wechselseitiger Zerstörung weder Schuld noch Verantwortung gegenüber Vietnam. (Die Umkehrung der Täterschaft in eine Opferrolle wird danach Schule machen.) Vor Bill Clinton verhinderten US-Präsidenten ohne jede Scham Kredite, Wirtschaftshilfe und Anerkennung internationaler Organisationen für Vietnam, dessen Durchlöcherung einstmals so kostspielig gewesen war, dass die Gold-Deckung der Dollarwährung nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. (Damit war der Weg zu einem spekulativen Weltgeldmarkt ohne Begrenzungen endgültig frei.)

Auf dem vom Philosophen Bertram Russell und anderen initiierten Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Stockholm im Mai 1967 hatte der Franzose Jean-Paul Sartre den Massenmord an vietnamesischen Menschen sogar mit der Judenverfolgung der Nazis verglichen. Die Größe des Unrechts provozierte also auch bei herausragenden Vertretern humanistischer Ideale Vergleiche, die kaum hilfreich sein konnten. Ohne Zweifel jedoch sind die verantwortlichen US-Machthaber und Militärs — darunter der "Friedensnobelpreisträger" Henry Kissinger — auf der Grundlage von UN-Charta und Völkerrecht vor dem Forum der Zivilisationsgeschichte als prominente Kriegsverbrecher zu qualifizieren. Für die Weltöffentlichkeit stand spätestens jetzt die Frage im Raum, ob der administrative Komplex des US-Systems überhaupt zu einer — von Rationalität und Respekt vor anderen Kulturkreisen getragenen — Weltfriedenspolitik fähig wäre. In zwei Jahrzehnten hatten Millionen US-Amerikaner ohne ein Konzept von Kulturdialog und Völkerverständigung in Südostasien für US-Regierungen agiert, deren "Werthaltung" sich faktisch in einem irrationalen Antikommunismus erschöpfte. Gegen US-Bürger, die im Protest gegen diesen Krieg ihre Bürgerrechte wahrnahmen, setzte die Regierung illegale und auch tödliche Mittel ein. Für ihre Idee vom Nation building in fernen Ländern fand die politische Machtelite danach auf Jahrzehnte hin keinen richtigen Rückhalt mehr im eigenen Land. Gleichwohl hinderte das spätere Administrationen nicht an Militär- bzw. Geheimdienstoperationen im Nahen Osten oder in Süd- und Mittelamerika, wo faschistische Regime direkte und verdeckte Stützung erhielten. Die Flagge des Antikommunismus wurde dabei auch mit dem Blut zahlreicher ermordeter Christen gefärbt. Die prominenten Mörder und Diktatoren des amerikanischen Kontinents hatten fast ausnahmslos die berüchtigte "School of the Americas" absolviert. Dem durch den CIA ermöglichten Militärputsch in Chile am 11. September 1973 folgte bis heute eine endlose Liste weiterer US-Interventionen in aller Welt. Für die Grundsteinlegung eines militanten Islamismus auf der gesamten Erdkugel ist in erster Linie die Afghanistan-"Politik" der USA unter Präsident Jimmy Carter mitverantwortlich. Nach Ende des US-amerikanischen Südostasien-Engagements hatte dessen Vorgänger Gerald R. Ford erklärt, die USA hätten aus dem Vietnamkrieg gelernt. Wie soll man das im Licht der letzten drei Jahrzehnte verstehen?

Weltweit geblieben ist bis heute eine hohe Achtung vor dem Widerstand von Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten, der als Anstoß Bewegungen in Frankreich, Deutschland und zahlreichen anderen Gesellschaften der Erde nach sich zog. — In den 80er Jahren folgte ein weltweit verbundener Protest gegen die atomare Aufrüstung. — Bis zur Stunde sind die in diesem Zusammenhang von unten gewachsene Modelle der US-Kultur Beweis für die Möglichkeit von gewaltfreiem Widerstand und zugleich der wirksamste Wall gegen einen von Eurozentristen instrumentalisierten "Antiamerikanismus". Bezeichnender Weise gehörten in der Bundesrepublik maßgeblich nur solche Kräfte zur breiten Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, die vordringlich die kollektive Verdrängung der faschistischen Verbrechen in unserer Gesellschaft anklagten. Auch damit war die Chance zu einer universalen Erinnerungskultur aufgezeigt, die stets beim eigenen Land beginnt und Verbrechen gegen die Menschheit nirgends aufrechnet.


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